Nicht so in Nepal. Hier lagen wirklich riesige Felsbrocken und loses Erdreich über ein 100 m großes Teilstück völlig verstreut. Jederzeit war die Möglichkeit weiterer Abbrüche gegeben. Der Boden war von den letzten Tagen völlig aufgeweicht. Aus europäischer Sicht ein Ding der Unmöglichkeit. Lebensgefahr! Betreten verboten! Durch die europäische Brille sah man überall imaginär die großen Warnschschilder mit der entsprechenden Aufschriften aufpoppen. Nicht so hier. Naja, wir waren ja inzwischen auch ziemlich weit von Europa entfernt. Hier zählte Improvisation. So standen schon auf beiden Seiten Träger vor mehreren Jeeps die ihre Beladung in Form von Gütern aller Art über die Stelle schleppten. Es war nicht mal der kleinste Bagger zu sehen. Wir hörten, man wolle die Straße in 1-2 Monaten wieder herstellen, wenn der Monsun vorüber sei. Bis dahin war die einzige Straßenverbindung unterbrochen.
Wir haderten kurz, ob wir es riskieren sollten das lose Geröllfeld, das sich uns bot, zu durchqueren. Die Träger machten es uns zwar die ganze Zeit vor und so sahen wir zumindest, dass sie nicht gleich in die Tiefe gerissen und verschüttet wurden, aber noch wagten wir selber keinen Schritt vorwärts. Dann lief ein älterer Mann an uns vorbei und nachdem er die Mitte erreicht hatte, ließen wir letztendlich alle Zweifel über Bord fallen und folgten ihm. Er war wohl fast so alt wie wir beide zusammen, aber barfuss lief er behände durch das Katastrophengebiet. Er sagte uns im Vorbeigehen wir sollen die Schuhe ausziehen und:
"Bitte leise laufen!"
Wie bitte? Ja, dann würde schon nichts von oben nachrutschen. Na, wenn er so sein Leben lang überlebt hatte, musste zu mindestens irgendwas dran sein, hofften wir.
Wir liefen also leise und schnell durch die lose Geröllmasse.
Der alte Mann hatte zudem einen pinken, großen Reisetrolley mit Rollen geschultert. Absurd! Das Ding war hier, zwischen all den Gesteinsmassen, wirklich total fehl am Platze. Mit so einem Koffer kam man auf dem glatten Boden eines Flughafen sicher gut zurecht, aber bestimmt nicht in einem Erdrutsch auf dem Dach der Welt. Der Mann trug seinen Koffer trotzdem mit stoischer Ruhe und Gelassenheit abwechselnd auf dem Kopf oder gebückt auf dem Rücken. Wir weit es noch bis Danaqyu sei fragten wir. Er sagte ganz ruhig und als wenn es das natürlichste der Welt sei: „Nur noch vier Stunden“ und leichtfüßig lief er dabei weiter, als wäre es ein Spaziergang mit seinem unergonomischen Klotz. Wir schauten uns an. Nur noch vier Stunden? Wir überlegten kurz. In Deutschland wäre so eine Szene wahrscheinlich reif für die “Versteckte Kamera“ gewesen. Hier war zu mindestens ziemlich sicher keine und das ganze einfach nur Alltag im Gebirge.
Wieder mal merkt man, dass die Menschen zwar inzwischen schon Smartphones haben, ihr Denken und Lebenseinstellung auf Grund der Verhältnisse in denen sie zu Hause sind grundlegend anders ist.
In den Gegenden der Sherpas werden alle Entfernungen in Marschstunden gerechnet. Sechs Stunden hier hin, eine Stunde da hin. Nach zwei Stunden waren wir immer noch einiges von Danaqyu entfernt und es dämmerte schon. Die angegebenen Zeitstunden stimmten meistens, wenn man wie die Sherpas ohne Pausen durchmarschierte.
Wir konnten also nicht einfach doppelt so schnell laufen, die Zeit war knapp bemessen, sondern wir mussten einfach doppelt so lange laufen, um mehr Strecke zu schaffen. Länger durchhalten. Deshalb war früher loslaufen und später aufhören angesagt.
An diesem Tag hatten wir noch die Sorge das wir den Trek in nicht ausreichender Zeit schaffen würden, um rechtzeitig bis zu unserem Rückflug in Kathmandu zu ein. Wir hatten außerdem keine Ahnung wie lange es wirklich dauern würde und in der Abgeschiedenheit der Berge kommt es dazu in der Regel anders als man denkt. So waren viele unserer vorherigen Erfahrungen. Wir waren außerdem noch nicht an das Marschpensum adaptiert und nach acht Stunden machte sich die erste Erschöpfung bemerkbar. Am nächsten Tag mussten wir sicherlich mindestens 12 Stunden laufen um das Extra-Pensum zu packen. Wir freuten uns deshalb, als kurz nach dem Erdrutsch ein Jeep mit Mensch und Material überholte. Wir forderten Sie auf zu stoppen und wollten auf das total überladene Fahrzeug aufspringen. Es gab allerdings keine Sitzplätze im Inneren mehr. Sie wollten uns einfach nicht mitnehmen. Auf dem Dach war neben dem Gepäck allerdings noch Platz. Theoretisch.... Zumindest für Nepalesen. Erst hiess es nämlich: Ausländer und besonders Frauen dürfen nicht auf dem Dach sitzen. Es sei zu gefährlich. Neben dem Weg ging es oft mehrere hundert Meter in die Tiefe. Während noch wild diskutiert wurde, das wir keinen Platz auf dem Geländewagen bekommen könnten, saß Corinna inzwischen längst auf einem Hartschalenkoffer oben auf dem Dach und grinste herunter. Was sollten sie da noch machen? Schnell versuchten die Nepalis noch die unten sitzende Männer gegen Corinna auf dem Dach zu tauschen. Sie bestätigte von oben sie wolle definitiv keine (Ausländer)- Sonderbehandlung und jemanden den Platz weg nehmen. So durfte auch Olli dann auf einem Reifen auf dem Dach Platz nehmen. Das akzeptierten Sie dann kopfschüttelnd und es ging endlich los.
Die Jungs hatten recht. Auf dem Dach war die Hölle los. Man musste wirklich extrem aufpassen nicht herunter zu fallen. Der alte Wagen ächzte, die Gepäckstücke auf dem Dach waren nur notdürftig verschnürt und deshalb darauf sitzend die reinste Rutschpartie. Ein Festhalten nur durch ständiges festkrallen mit Händen und Füßen an den Stahlstreben des Gepäckträgers möglich. Kurze Zeit später bedauerten wir schon die Entscheidung den Jeep genommen zu haben. So viel schneller als zu Fuß ging es an vielen Stellen dann auch nicht. Oft war dann an sehr schmalen Passagen dann auch wieder nur Schritttempo oder Absteigen und Laufen angesagt. Welche unserer beiden Fortbewegungsvarianten in den letzten Stunden nun insgesamt anstrengender waren und wo wir letztendlich mehr Kalorien verloren hatten war nicht ganz klar…Unsere Arme spürten wir zumindestens bald nicht mehr. Bei einigen Neigungen des Fahrzeugs immer nahe am Abhang stockte uns zudem der Atem, da wir am höchsten Punkt vom Fahrzeug natürlich auch den größten Ausschlagsweg hatten. Oft konnten wir so weit über den Rand in die Tiefe schauen, dass es aus unserer Perspektive so aus sah, als ob wir gerade kippen würden. Sekunden erschienen einem wie Stunden. Jetzt bloß nicht abrutschen. Zudem hatte sich doch der Angstschweiß, an den Handinnenflächen ausgebreitet, so dass diese auch noch glitschig waren. Stand das Fahrzeug mal für einige Zeit still oder die Strecke war überschaubar in Ordnung, so musste man sich schnell die Hände abtrocknen, um für die nächsten Kurve wieder „Gripp“ zu haben. Die Tatsache das Nepalis und Inder leichtfüßig auf den Dächern von Autos, Reisebussen oder Zügen saßen, muss mit ihrem geringen Eigengewicht zusammenhängen oder Shiva redet da noch ein gehöriges Wörtchen mit. Nur so können wir uns das erklären. Entspannt ist auf jeden Fall ganz anders.